Wie die Sprache zur Schrift kam
Etwa 6.500 Sprachen werden zur Zeit auf der Welt gesprochen - alle zwei Wochen gibt es statistisch gesehen eine weniger. Vor allem die Hochsprachen Arabisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch und Russisch drängen lokale Minderheitensprachen ins Nichts, so dass von ihnen wohl kaum die Hälfte Chancen hat, das Jahrhundert lebendig zu überdauern.
Die "Gesellschaft für bedrohte Sprachen" befürchtet für diesen Zeitraum sogar ein Aussterben von bis zu 90 % aller derzeit vorhandenen Sprachen und versucht mit Tonaufzeichnungen und Verschriftungen, zumindest einige für die Nachwelt zu konservieren.
Gut 660 Schriftsprachen sind aus Vergangenheit und Gegenwart bekannt. Die Sprecherzahl der 100 größten Sprachen beträgt über 90 % der Weltbevölkerung, im Gegensatz dazu, gibt es auf Papua-Neuguinea neben Pidgin als Umgangssprache 742 Papua-Dialekte.
Der Vorteil des modernen Menschen im Überlebenskampf gegenüber dem Neandertaler bestand in erster Linie in seinem differenzierteren Sprachgebrauch, der ihn befähigte, Sozialstrukturen auszubilden, die weit über das Zusammenleben in der Horde hinausgingen.
Für das Aussterben des Neandertalers war aber wohl weniger seine restringierte Kommunikationsfähigkeit als vor allem die einseitige Ernährung ursächlich, die fast ausschließlich aus Fleisch bestand und der gesünderen Mischkost bei schwankenden klimatischen Verhältnissen hoffnungslos unterlegen war.
Die Fortschritte bei der Verständigung in der Gruppe führten bald dazu, dass über die zwischenmenschliche Kommunikation hinaus Kontakt zu jenseitigen Mächten gesucht wurde. Zu Gebeten und Riten kamen die ersten Höhlenmalereien, wobei ästhetische Gesichtspunkte eine weniger gewichtige Rolle gespielt haben dürften.
Die naturalistischen Darstellungen machten einen Abstraktionsprozess durch: Über piktografische Symbole, bei denen der Sinngehalt der Abbildung deutlich zu erkennen war, führte die Entwicklung zu Zeichen, die nur noch die einzelnen Laute der Sprache repräsentierten.
Die ältesten Zeugnisse des Schriftgebrauchs fanden sich auf dem Balkan in der Nähe von Belgrad und nicht - wie gemeinhin angenommen wird - in Mesopotamien.
Vor 8000 Jahren begannen die Menschen der Vinca-Kultur das erste bekannte Schriftsystem zu entwickeln, das ausschließlich sakralen Zwecken diente. Über mehr als 2000 Jahre hinweg wurde auf beschrifteten Spindelköpfen, Tonstatuetten und Votivgaben Fürsprache für die Toten gehalten, um sie der "Großen Mutter" ans Herz zu legen.
Von Osten eindringende indoeuropäische Hirtennomaden machten der Kultur von Alteuropa Mitte des 4. Jahrtausends v. Chr. im Donauraum ein Ende. Die im Gegensatz zu den Alteuropäern patriarchalische Sozialstruktur der Eindringlinge ließ die Schrifttradition jedoch nicht völlig abbrechen.
Um 3200 v. Chr. taucht auf den Kykladen unvermittelt eine Kultur auf, in der Formen der alteuropäischen Traditionen fortgeführt wurden und über 1000 Jahre Bestand hatten. Im Zeichenrepertoire von Linear A des minoischen Kreta finden sich im Anschluss daran viele Parallelen zu den Schriftzeichen Alteuropas.
Auf Zypern wurde mit der kyprischen Silbenschrift eine letzte Abzweigung geschaffen und fand bis in die Zeit des Hellenismus Verwendung. Dann endet eine 5000 jährige Schrifttradition. Man wird wohl nie zweifelsfrei herausfinden, auf welcher sprachlichen Grundlage die Linearschrift der Vinča-Kultur geschaffen wurde, doch wird vermutet, dass die kyprische Silbenschrift bei der Entstehung der Alphabetschrift im Vorderen Osten nicht ohne Einfluss geblieben ist.
Keilschrift, Hieroglyphen und Indus-Schrift der ersten Hochkulturen werden noch heute von Vielen für die ersten Schriftsysteme gehalten; zumindest war deren Entstehung ebenso religiös motiviert.
Die Entwicklung der Keilschrift - vom altsumerischen Bildzeichen zum Keilschriftzeichen - ist in ihren Anfängen gut dokumentiert und in den frühen Formen auch heute noch ohne Bedeutungskenntnis dieser Zeichen zu verstehen, da die Denotate im stark naturalistischen Bildcharakter deutlich zu Tage treten. In diesem Stadium entwickelten die theokratischen Stadtstaaten schon Frühformen der Bürokratie mit reichhaltigen Inventarlisten für die Tempel ihrer Stadtgottheiten.
Am Ende der Entwicklung geben die Keilschriftzeichen nur noch den Laut der Silbe wieder, so dass sie auch für andere Sprachen als Schriftmedium dienen konnten; so wurde Akkadisch zur Sprache der damaligen interkulturellen Kommunikation und fand sich in Dokumentform noch vielzählig in ägyptischen Archiven wieder; in den Ruinen des Zweistromlandes geht die Anzahl der Tontafeln in die Millionen.
Die Hieroglyphen, deren Bildhaftigkeit noch heute zu beeindrucken weiß, nahmen den gleichen Weg von der Logo- zur Phonographie, doch mit dem Unterschied, dass sich keine Silben- sondern eine Segmentalschrift bildete, die nur das Konsonantengerüst wiedergab und die zu kursiven Formen wie Hieratisch und Demotisch weiterentwickelt wurde.
Von der Indus-Schrift ist außer ihrem Zeichenbestand nur bekannt, dass auch sie ein Opfer eindringender Indoeuropäer geworden ist.
In der Hochbronzezeit - Mitte des 2. Jahrtausend v.Chr. - entstanden im Kreuzungspunkt der Handelsströme, dem syrisch-palästinischen Raum, auf der Grundlage der vorhandenen Schriftsysteme, die nordsemitischen Buchstabenschriften.
Zur gleichen Zeit begann in China eine Schriftentwicklung, die bis heute ihre Kontinuität bewahrt hat. Aus dem Orakelwesen ging ein logografisches Schriftsystem mit bis zu 50.000 Wortzeichen hervor, das in der heutigen Zeit einzigartig blieb.
Nach den Umwälzungen der ausgehenden Bronzezeit löste die aramäische Schrift und Sprache das in Keilschrift geschriebene Akkadisch als Verkehrssprache im vorderen Orient ab. Auf dieser Grundlage entstanden im arabischen und indischen Raum zahlreiche Varianten des Alphabets.
Die Phönizier verbreiteten die neue Technik im Mittelmeerraum, die Griechen schufen daraus das erste vollständige Alphabet mit Zeichen für die Vokale. Die griechische und phönizische Kolonisation etablierte die Alphabetschrift dann auch im westlichen Mittelmeerraum.
So entstanden viele Varianzen der Alphabetschrift, von denen die Lateinschrift von der expansionistischen Militär- und Handelsmacht Rom verbreitet wurde und sich schließlich im Zuge der globalen Ausbreitung des Christentums in so unterschiedlichen Sprachen wie Maori, Suaheli, Quechua, Lappisch und vielen anderen etablierte. Der Gebrauch von Latein als Wissenschaftssprache bis in die Neuzeit hat dazu geführt, dass alle europäischen Sprachen von lateinischen Lehnwörtern durchsetzt sind, auf vielen Sprachebenen bisweilen sogar dominiert werden.
Seit der Zeit des Turmbaus zu Babel darf man davon ausgehen, dass Dolmetscher und Übersetzer zu den angesehensten Berufsgruppen im Altertum gehörten.
Der "Stein von Rosette", die Arbeit eines "Übersetzungsbüros" aus dem Jahre 196 v. Chr., die Champollion die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen durch die entsprechenden Texte in Demotisch und Griechisch ermöglichte, ist wohl eine der wichtigsten Entdeckungen, die der Archäologie bisher gelangen.
Die Anforderungen, die Wissenschaft und Ökonomie an moderne Sprachen stellen, hat dazu geführt, dass neben verschiedenen Umgangs- und Literatursprachen zahlreiche Experten-Idiome (Fachsprachen) ausgebildet wurden, die in der Regel auch nur von jenen zu verstehen sind, die mit ihnen fachspezifisch kommunizieren - und sich nicht zuletzt auch mit ihnen sozial abgrenzen wollen. Dadurch entstanden in jeder Sprache "interne Übersetzungsdienste": die Populärwissenschaften.
Wissenschaftliche Spezialsprachen bedienen sich zur Sprachgestaltung morphematisch auch heute noch vorwiegend aus dem Lateinischen und Altgriechischen, während die Verkehrssprache der Globalisierung das "Internationale Business- und IT-Englisch" geworden ist, das heute als neue Universalsprache eine vergleichbare Stellung einnimmt wie das Latein vor 2000 Jahren.
Die Sprachenentwicklung ist heute dynamischer denn je: Innovative Medien generieren neue Kommunikationsformen und lassen mithin neue Sprachen entstehen, z.B. die Programmiersprachen. Das digitale Zeitalter formt sogar aus archaischen Kommunikationstechniken moderne Anwendungsformen: Die allgegenwärtigen Markenzeichen, deren Erfindung als Töpfermarken quasi in die früheste Zeit der Schriftentstehung zurückreichen, scheinen für einen großen Teil der heutigen Jugend wieder Sinn stiftend zu wirken: In SMS-Kurzbotschaften wird erneut auf alte Techniken der Piktografie zurückgegriffen - bis die Daumen in Gips liegen... ;-)